Was nun zum Rechnen und zur Meßkunde und zu allen den Vorübungen gehört, die vor der Dialektik hergehen sollen, das müssen wir ihnen als Knaben vorlegen, indem wir jedoch die Form der Belehrung nicht als einen Zwang zum Lernen einrichten. – Warum nicht? – Weil, sprach ich, kein Freier irgendeine Kenntnis auf knechtische Art lernen muß. Denn die körperlichen Anstrengungen, wenn sie auch mit Gewalt geübt werden, machen den Leib um nichts schlechter, in der Seele aber ist keine erzwungene Kenntnis bleibend. – Richtig, sagte er. – Nicht also mit Gewalt, o Bester, sprach ich, sondern spielend beschäftige die Knaben mit diesen Kenntnissen, damit du auch desto besser sehen könntest, wohin ein jeder von Natur sich neigt. – Das hat wohl Grund, sagte er. – Erinnerst du dich nun nicht, sprach ich, daß wir sagten, man müsse die Knaben auch in den Krieg zu Pferde als Zuschauer führen und, wenn es einmal sicher ist, sie auch ganz nahe hinzubringen und sie Blut kosten lassen, wie man es mit den jungen Hunden macht? – Daran erinnere ich mich. – In allem diesem nun, in den Anstrengungen, dem Unterricht und den Gefahren, muß man, die jedesmal am tüchtigsten hineingehen, in eine gewisse Liste eintragen. – In welchem Alter? fragte er. – Wenn sie, sprach ich, von den notwendigen Leibesübungen losgesprochen werden. Denn diese Zeit, währe sie nun zwei oder drei Jahre, kann unmöglich noch etwas anderes ausrichten; denn Müdigkeit und Schlaf sind dem Lernen feind, auch ist dies selbst nicht eine von den kleinsten Prüfungen, wie sich jeder in den Leibesübungen zeigt. – Wie sollte es nicht. – Nach dieser Zeit aber, sprach ich, von zwanzig Jahren an, sollen die vorzüglichen größere Ehre vor den andern genießen, und die den Knaben zerstreut vorgetragenen Kenntnisse müssen für sie zusammengestellt werden zu einer Übersicht der gegenseitigen Verwandtschaft der Wissenschaften und der Natur des Seienden. – Wenigstens, sprach er, wird nur das so Erlernte fest sein, wem man es auch beigebracht hat. – Und, sagte ich, die stärkste Probe, wo eine dialektische Natur ist und wo nicht. Denn wer zur Zusammenschau fähig ist, ist dialektisch: wer nicht, ist es nicht. – Ich stimme dir bei, sagte er. – Hierauf also, sprach ich, wirst du achten müssen, und welche unter ihnen dieses am meisten sind und beharrlich im Lernen, beharrlich auch im Kriege und in allem Vorgeschriebenen, diese wiederum, wenn sie dreißig Jahre zurückgelegt haben, aus den Auserwählten auswählen und zu noch größeren Ehren erheben, um, indem du sie durch die Dialektik prüfst, zu sehen, wer von ihnen Augen und die andern Sinne fahrenlassend auf das Seiende selbst und die Wahrheit loszugehen vermag. Und hier ist nun viele Behutsamkeit nötig, o Bester. – Weshalb eigentlich? fragte er. – Merkst du denn nicht, sprach ich, das jetzige Übel mit der Dialektik, wie groß es ist? – Welches denn? – Daß sie ganz mit Gesetzwidrigkeit angefüllt ist? – Das freilich, sagte er. – Glaubst du also, sprach ich, daß denen etwas ganz Wunderbares begegnet, und verzeihst ihnen nicht? – Wieso eigentlich? – Wie wenn, sprach ich, ein untergeschobenes Kind bei großem Vermögen in einem vornehmen und ausgebreiteten Geschlecht und unter vielen Schmeichlern erzogen wäre und, wenn es ein Mann geworden, erführe, es sei nicht von diesen Eltern, die dafür ausgegeben worden, die wahren aber nicht auffinden könnte, kannst du wohl ahnen, wie dieser gegen die Schmeichler und gegen die, welche ihn untergeschoben haben, gesinnt sein wird zuerst in der Zeit, wo er noch nichts von dem Unterschieben wußte, und dann wieder in der, wo er es weiß? Oder willst du meine Ahnung davon hören? – Das letztere will ich. –
Grund der bei Mitteilung der Dialektik anzuwendenden Vorsicht
Ich ahne also, sprach ich, daß er Vater und Mutter und die andern geglaubten Verwandten mehr ehren wird als die Schmeichler und weniger übersehen, wenn sie etwas bedürfen, weniger auch etwas Gesetzwidriges gegen sie tun oder reden, auch weniger ihnen in großen Dingen ungehorsam sein als den Schmeichlern, in der Zeit nämlich, wo er die Wahrheit noch nicht weiß. – Natürlich. – Hat er aber das Wahre gemerkt: so ahne ich im Gegenteil, er werde an Ehrfurcht und Bemühung um jene nachlassen, den Schmeichlern aber davon zulegen und ihnen bei weitem mehr als zuvor folgen, ja indem er sich schon unverhohlen zu ihnen hält, ganz nach ihrem Willen leben, um jenen Vater aber und die übrigen angeblichen Verwandten, wenn er nicht sehr rechtschaffen ist von Natur, sich gar nichts kümmern. – Du beschreibst alles, wie es geschehen wird. Aber wie bezieht sich nun dieses Bild auf diejenigen, welche sich in jenes Gebiet des Denkens begeben? – So. Es gibt doch bei uns Lehren vom Gerechten und Schönen, unter denen wir von Kindheit an erzogen worden sind wie von Eltern, ihnen gehorchend und sie ehrend. – So ist es. – Gibt es nun nicht auch andere, diesen entgegengesetzte Bestrebungen, die Lust bei sich führen und unsern Seelen zwar schmeicheln und sie anlocken, aber doch diejenigen, die auch nur einigermaßen tauglich sind, nicht überreden; sondern solche ehren jene väterlichen Lehren und gehorchen denen? – Die gibt es. – Wie nun, sprach ich, wenn einem, mit dem es so steht, eine Frage kommt und ihn fragt, was das Schönste ist, und wenn er das antwortet, was er vom Gesetzgeber gehört hat, die Rede ihm dann bestreitet und durch öftere und vielfältige Widerlegungen ihn auf den Gedanken bringt, als sei dieses um nichts mehr schön als häßlich, und ebenso mit dem Gerechten und Guten und was er am meisten in Ehren gehalten hat: wie, meinst du, wird er sich nach diesem gegen jene verhalten, was Ehrfurcht und Folgsamkeit betrifft? – Notwendig, sagte er, wird er sie weder mehr ebenso ehren noch ihnen ebenso gehorchen. – Wenn er nun, sprach ich, diese nicht mehr so für ehrenwert und verwandt hält wie zuvor, aber auch das Wahre nicht findet, kann er sich zu einer andern Lebensweise als jener schmeichlerischen hinneigen? – Unmöglich, sagte er. – Ein Unrechtlicher also wird er geworden zu sein scheinen aus einem Rechtlichen. – Notwendig. – Muß dies nun nicht ganz natürlich denen begegnen, die so an jene Untersuchungen geraten? Und verdienen sie nicht, wie ich eben sagte, alle Nachsicht? – Und Mitleiden dazu, sagte er. – Also damit du dieses Mitleid nicht nötig habest bei den Dreißigjährigen, so muß zu diesen Untersuchungen auf die umsichtigste Weise geschritten werden. – Gar sehr, sagte er. – Ist nun nicht schon dies, sprach ich, eine sehr große Vorsicht, wenn sie sie nicht zu jung kosten dürfen? Denn ich glaube, es wird dir nicht entgangen sein, daß die Knäblein, wenn sie zuerst solche Reden kosten, damit umgehen, als wenn es ein Scherz wäre, indem sie sie immer zum Widerspruch lenken, und den nachahmend, der sie widerlegt, wieder andere widerlegen und ihre Freude daran haben, wie Hündlein alle, die ihnen nahekommen, durch die Rede zu zerren und zu rupfen. – Ganz über die Maßen, sagte er. – Wenn sie nun viele widerlegt haben und von vielen auch widerlegt worden sind, so geraten sie gar leicht dahinein, nichts mehr von dem zu glauben, was sie früher glaubten, und dadurch kommen denn sie und alles, was die Philosophie betrifft, bei den übrigen in schlechten Ruf. – Sehr wahr, sagte er. – Wer aber schon älter ist, sprach ich, wird an solcher Torheit keinen Teil nehmen wollen, sondern lieber den, der untersuchen und die Wahrheit ans Licht bringen will, nachahmen als den, der Scherz treibt und zum Scherz widerspricht, und so wird er selbst achtbarer sein und auch die Sache zu Ehren bringen statt in Unehre. – Richtig. – Und das vor diesem Gesagte ist auch alles aus Vorsicht gesagt, daß man nur sittsame und ernste Naturen soll an Untersuchungen teilnehmen lassen und nicht so wie jetzt der erste beste, der gar nicht taugt, dazu gelangen kann. – Allerdings, sagte er. –
Weiterer Ausbildungsgang der Herrscher. Scblußworte über die Möglichkeit dieses Staates
ird es nun hinreichen, daß sie bei diesen Untersuchungen angestrengt und unablässig bleiben, ohne irgend etwas anderes zu tun, sondern indem sie sich auf entsprechende Art wie früher mit dem Leibe doppelt soviel Jahre üben als damals? – Meinst du also sechs oder vier? fragte er. – Einerlei! sprach ich, nimm fünf. Aber nach diesem werden sie wieder in jene Höhle zurückgebracht und genötigt werden müssen, Ämter zu übernehmen im Kriegswesen und wo es sich sonst für die Jugend schickt, damit sie auch an Erfahrung nicht hinter den andern zurückbleiben, und auch hierbei muß man sie noch prüfen, ob sie auch aushalten werden, wenn sie so nach allen Seiten gezogen werden, oder ob sie abgleiten werden. – Wieviel Zeit aber, fragte er, setzt du hierzu aus? – Fünfzehn Jahre, sprach ich. Haben sie aber fünfzehn erreicht, dann muß man, die sich gut gehalten und überall vorzüglich gezeigt hatten in Geschäften und Wissenschaften, endlich zum Ziel führen und sie nötigen, das Auge der Seele aufwärts richtend in das allen Licht Bringende hineinzuschauen, und wenn sie das Gute selbst gesehen haben, dieses als Urbild gebrauchend, den Staat, ihre Mitbürger und sich selbst ihr übriges Leben hindurch in Ordnung zu halten, jeder in seiner Reihe, so daß sie die meiste Zeit der Philosophie widmen, jeder aber, wenn die Reihe ihn trifft, sich mit den öffentlichen Angelegenheiten abmühe und dem Staat zuliebe die Regierung übernehme, nicht als verrichteten sie dadurch etwas Schönes, sondern etwas Notwendiges. Und so mögen sie denn, nachdem sie andere immer wieder ebenso erzogen und dem Staat andere solche Hüter an ihrer Stelle zurückgelassen, die Inseln der Seligen bewohnen gehn. Denkmäler aber und Opfer wird ihnen der Staat, wenn auch die Pythia damit einverstanden ist, öffentlich darbringen als guten Dämonen, wo nicht, doch als seligen und göttlichen Menschen. – Vortrefflich, o Sokrates, sagte er, hast du uns die Herrscher wie ein Bildner dargestellt. – Und auch die Herrscherinnen, sprach ich, o Glaukon. Denn glaube ja nicht, daß, was ich gesagt, ich von Männern mehr gemeint habe als von Frauen, so viele sich von tüchtiger Natur darunter finden. – Richtig, sagte er, wenn sie ja gleichen Teil an allem haben sollen mit den Männern, wie wir aufgeführt haben. – Wie nun? sagte ich. Gebt ihr zu, daß, was wir von diesem Staat und seiner Verfassung gesagt haben, nicht bloß fromme Wünsche sind, sondern Schweres zwar, aber doch irgendwie möglich, nur auf keine andere Weise als gesagt wurde, wenn wahrhafte Philosophen, die – einer oder mehrere – zur Obergewalt im Staat gelangt sind, mit Verachtung der jetzigen Vorzüge, weil sie diese für unedel und nichts wert halten, das Richtige und die von diesem ausgehenden Vorzüge allein hochachten, für das allergrößte und notwendigste aber das Gerechte, und diesem dienend und es befördernd zur Einrichtung ihres Staates schreiten? – Wie aber? fragte er. – So, daß sie alle, welche über zehn Jahre alt sind, hinausschicken auf das Land, und nur die jüngeren Kinder zu sich nehmen, um sie, entnommen den jetzt geltenden Sitten, die auch die Eltern haben, nach ihren eigenen Gebräuchen und Gesetzen zu erziehen, welche so sind, wie wir damals ausgeführt haben. Und so wird am schnellsten und leichtesten der Staat und die Verfassung, die wir beschrieben, eingerichtet, selbst glücklich sein und dem Volk, unter dem er besteht, die trefflichsten Dienste leisten. – Gewiß, sagte er. Und wie es gehen könnte, wenn es jemals gehen soll, dieses, o Sokrates, scheinst du mir vortrefflich ausgeführt zu haben. – Ist also nun nicht, sprach ich, unsere Rede vollständig von diesem Staat und dem ihm ähnlichen und angemessenen Manne? Denn auch dieser steht nun ganz deutlich vor uns, wie wir sagen werden, daß er sein müsse. – Ganz deutlich, sagte er; und, was du fragst, es scheint mir beendigt zu sein.