Das Höhlengleichnis ist eines der bekanntesten Gleichnisse der antiken Philosophie. Es stammt von dem griechischen Philosophen Platon (428/427–348/347 v. Chr.), der es am Anfang des siebten Buches seines Dialogs Politeía von seinem Lehrer Sokrates erzählen lässt. Es verdeutlicht den Sinn und die Notwendigkeit des philosophischen Bildungswegs, der als Befreiungsprozess dargestellt wird. Das Ziel ist der Aufstieg aus der sinnlich wahrnehmbaren Welt der vergänglichen Dinge, die mit einer unterirdischen Höhle verglichen wird, in die rein geistige Welt des unwandelbaren Seins. Den Aufstieg vollzieht zwar jeder für sich, aber da man dabei Hilfe benötigt, ist es zugleich auch ein kollektives Bemühen. Zuvor hat Sokrates am Ende des sechsten Buches das Sonnengleichnis und das Liniengleichnis vorgetragen. Als Abschluss und Höhepunkt der Gleichnisreihe zählt das Höhlengleichnis zu den Grundtexten der platonischen Philosophie, da es zentrale Aussagen von Platons Ontologie und Erkenntnistheorie veranschaulicht.
Platon
Politeia
(Übersetzer: Friedrich Schleiermacher)
Siebentes Buch
Beschreibung der Lage der Gefangenen
Nächstdem, sprach ich, vergleiche dir unsere Natur in bezug auf Bildung und Unbildung folgendem Zustande. Sieh nämlich Menschen wie in einer unterirdischen, höhlenartigen Wohnung, die einen gegen das Licht geöffneten Zugang längs der ganzen Höhle hat. In dieser seien sie von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln, so daß sie auf demselben Fleck bleiben und auch nur nach vorne hin sehen, den Kopf aber herumzudrehen der Fessel wegen nicht vermögend sind. Licht aber haben sie von einem Feuer, welches von oben und von ferne her hinter ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den Gefangenen geht obenher ein Weg, längs diesem sieh eine Mauer aufgeführt wie die Schranken, welche die Gaukler vor den Zuschauern sich erbauen, über welche herüber sie ihre Kunststücke zeigen. – Ich sehe, sagte er. – Sieh nun längs dieser Mauer Menschen allerlei Geräte tragen, die über die Mauer herüberragen, und Bildsäulen und andere steinerne und hölzerne Bilder und von allerlei Arbeit; einige, wie natürlich, reden dabei, andere schweigen. – Ein gar wunderliches Bild, sprach er, stellst du dar und wunderliche Gefangene. – Uns ganz ähnliche, entgegnete ich. Denn zuerst, meinst du wohl, daß dergleichen Menschen von sich selbst und voneinander je etwas anderes gesehen haben als die Schatten, welche das Feuer auf die ihnen gegenüberstehende Wand der Höhle wirft? – Wie sollten sie, sprach er, wenn sie gezwungen sind, zeitlebens den Kopf unbeweglich zu halten! – Und von dem Vorübergetragenen nicht eben dieses? – Was sonst? – Wenn sie nun miteinander reden könnten, glaubst du nicht, daß sie auch pflegen würden, dieses Vorhandene zu benennen, was sie sähen? – Notwendig. – Und wie, wenn ihr Kerker auch einen Widerhall hätte von drüben her, meinst du, wenn einer von den Vorübergehenden spräche, sie würden denken, etwas anderes rede als der eben vorübergehende Schatten? – Nein, beim Zeus, sagte er. – Auf keine Weise also können diese irgend etwas anderes für das Wahre halten als die Schatten jener Kunstwerke? – Ganz unmöglich. –
Nun betrachte auch, sprach ich, die Lösung und Heilung von ihren Banden und ihrem Unverstande, wie es damit natürlich stehen würde, wenn ihnen folgendes begegnete. Wenn einer entfesselt wäre und gezwungen würde, sogleich aufzustehen, den Hals herumzudrehen, zu gehen und gegen das Licht zu sehn, und, indem er das täte, immer Schmerzen hätte und wegen des flimmernden Glanzes nicht recht vermöchte, jene Dinge zu erkennen, wovon er vorher die Schatten sah: was, meinst du wohl, würde er sagen, wenn ihm einer versicherte, damals habe er lauter Nichtiges gesehen, jetzt aber, dem Seienden näher und zu dem mehr Seienden gewendet, sähe er richtiger, und, ihm jedes Vorübergehende zeigend, ihn fragte und zu antworten zwänge, was es sei? Meinst du nicht, er werde ganz verwirrt sein und glauben, was er damals gesehen, sei doch wirklicher als was ihm jetzt gezeigt werde? – Bei weitem, antwortete er. –
Das Hinaufsteigen zum Licht und das Wiederherabkommen in die Höhle
Und wenn man ihn gar in das Licht selbst zu sehen nötigte, würden ihm wohl die Augen schmerzen, und er würde fliehen und zu jenem zurückkehren, was er anzusehen imstande ist, fest überzeugt, dies sei in der Tat deutlicher als das zuletzt Gezeigte? – Allerdings. – Und, sprach ich, wenn ihn einer mit Gewalt von dort durch den unwegsamen und steilen Aufgang schleppte und nicht losließe, bis er ihn an das Licht der Sonne gebracht hätte, wird er nicht viel Schmerzen haben und sich gar ungern schleppen lassen? Und wenn er nun an das Licht kommt und die Augen voll Strahlen hat, wird er nicht das Geringste sehen können von dem, was ihm nun für das Wahre gegeben wird. – Freilich nicht, sagte er, wenigstens nicht sogleich. – Gewöhnung also, meine ich, wird er nötig haben, um das Obere zu sehen. Und zuerst würde er Schatten am leichtesten erkennen, hernach die Bilder der Menschen und der andern Dinge im Wasser, und dann erst sie selbst. Und hierauf würde er was am Himmel ist und den Himmel selbst leichter bei Nacht betrachten und in das Mond- und Sternenlicht sehen als bei Tage in die Sonne und in ihr Licht. – Wie sollte er nicht! – Zuletzt aber, denke ich, wird er auch die Sonne selbst, nicht Bilder von ihr im Wasser oder anderwärts, sondern sie als sie selbst an ihrer eigenen Stelle anzusehen und zu betrachten imstande sein. – Notwendig, sagte er. – Und dann wird er schon herausbringen von ihr, daß sie es ist, die alle Zeiten und Jahre schafft und alles ordnet in dem sichtbaren Raume und auch von dem, was sie dort sahen, gewissermaßen die Ursache ist. – Offenbar, sagte er, würde er nach jenem auch hierzu kommen. – Und wie, wenn er nun seiner ersten Wohnung gedenkt und der dortigen Weisheit und der damaligen Mitgefangenen, meinst du nicht, er werde sich selbst glücklich preisen über die Veränderung, jene aber beklagen? – Ganz gewiß. – Und wenn sie dort unter sich Ehre, Lob und Belohnungen für den bestimmt hatten, der das Vorüberziehende am schärfsten sah und am besten behielt, was zuerst zu kommen pflegte und was zuletzt und was zugleich, und daher also am besten vorhersagen konnte, was nun erscheinen werde: glaubst du, es werde ihn danach noch groß verlangen und er werde die bei jenen Geehrten und Machthabenden beneiden? Oder wird ihm das Homerische begegnen und er viel lieber wollen <das Feld als Tagelöhner bestellen einem dürftigen Mann> und lieber alles über sich ergehen lassen, als wieder solche Vorstellungen zu haben wie dort und so zu leben? – So, sagte er, denke ich, wird er sich alles eher gefallen lassen, als so zu leben. –
Auch das bedenke noch, sprach ich. Wenn ein solcher nun wieder hinunterstiege und sich auf denselben Schemel setzte: würden ihm die Augen nicht ganz voll Dunkelheit sein, da er so plötzlich von der Sonne herkommt? – Ganz gewiß. – Und wenn er wieder in der Begutachtung jener Schatten wetteifern sollte mit denen, die immer dort gefangen gewesen, während es ihm noch vor den Augen flimmert, ehe er sie wieder dazu einrichtet, und das möchte keine kleine Zeit seines Aufenthalts dauern, würde man ihn nicht auslachen und von ihm sagen, er sei mit verdorbenen Augen von oben zurückgekommen und es lohne nicht, daß man auch nur versuche hinaufzukommen; sondern man müsse jeden, der sie lösen und hinaufbringen wollte, wenn man seiner nur habhaft werden und ihn umbringen könnte, auch wirklich umbringen? – So sprächen sie ganz gewiß, sagte er. –
Erklärung und Anwendung des Bildes
Dieses ganze Bild nun, sagte ich, lieber Glaukon, mußt du mit dem früher Gesagten verbinden, die durch das Gesicht uns erscheinende Region der Wohnung im Gefängnisse gleichsetzen und den Schein von dem Feuer darin der Kraft der Sonne; und wenn du nun das Hinaufsteigen und die Beschauung der oberen Dinge setzt als den Aufschwung der Seele in die Region der Erkenntnis, so wird dir nicht entgehen, was mein Glaube ist, da du doch dieses zu wissen begehrst. Gott mag wissen, ob er richtig ist; was ich wenigstens sehe, das sehe ich so, daß zuletzt unter allem Erkennbaren und nur mit Mühe die Idee des Guten erblickt wird, wenn man sie aber erblickt hat, sie auch gleich dafür anerkannt wird, daß sie für alle die Ursache alles Richtigen und Schönen ist, im Sichtbaren das Licht und die Sonne, von der dieses abhängt, erzeugend, im Erkennbaren aber sie allein als Herrscherin Wahrheit und Vernunft hervorbringend, und daß also diese sehen muß, wer vernünftig handeln will, es sei nun in eigenen oder in öffentlichen Angelegenheiten. – Auch ich, sprach er, teile die Meinung so gut ich eben kann. –
Komm denn, sprach ich, teile auch diese mit mir und wundere dich nicht, wenn diejenigen, die bis hierher gekommen sind, nicht Lust haben, menschliche Dinge zu betreiben, sondern ihre Seelen immer nach dem Aufenthalt oben trachten; denn so ist es ja natürlich, wenn sich dies nach dem vorher aufgestellten Bilde verhält. – Natürlich freilich, sagte er. – Und wie? Kommt dir das wunderbar vor, fuhr ich fort, daß, von göttlichen Anschauungen unter das menschliche Elend versetzt, einer sich übel gebärdet und gar lächerlich erscheint, wenn er, solange er noch trübe sieht und ehe er sich an die dortige Finsternis hinreichend gewöhnt hat, schon genötigt wird, vor Gericht oder anderwärts zu streiten über die Schatten des Gerechten oder die Bilder, zu denen sie gehören, und dieses auszufechten, wie es sich die etwa vorstellen, welche die Gerechtigkeit selbst niemals gesehen haben? – Nicht im mindesten zu verwundern! sagte er. – Sondern, wenn einer Vernunft hätte, fuhr ich fort, so würde er bedenken, daß durch zweierlei und auf zwiefache Weise das Gesicht gestört sein kann, wenn man aus dem Licht in die Dunkelheit versetzt wird, und wenn aus der Dunkelheit in das Licht. Und ebenso, würde er denken, gehe es auch mit der Seele, und würde, wenn er eine verwirrt findet und unfähig zu sehen, nicht unüberlegt lachen, sondern erst zusehen, ob sie wohl von einem lichtvolleren Leben herkommend aus Ungewohnheit verfinstert ist oder ob sie, aus größerem Unverstande ins Hellere gekommen, durch die Fülle des Glanzes geblendet wird; und so würde er dann die eine wegen ihres Zustandes und ihrer Lebensweise glücklich preisen, die andere aber bedauern; oder, wenn er über diese lachen wollte, wäre sein Lachen nicht so lächerlich als das über die, welche von oben her aus dem Licht kommt. – Sehr richtig gesprochen, sagte er. –
Folgerung, daß die Erziehung nur als Umlenkung der ganzen Seele möglich ist
Wir müssen daher, sprach ich, so hierüber denken, wenn das Bisherige richtig ist, daß die Unterweisung nicht das sei, wofür einige sich vermessen sie auszugeben. Nämlich sie behaupten, wenn keine Erkenntnis in der Seele sei, könnten sie sie ihr einsetzen, wie wenn sie blinden Augen ein Gesicht einsetzten. – Das behaupten sie freilich, sagte er. – Die jetzige Rede aber, sprach ich, deutet an, daß dieses der Seele eines jeden einwohnende Vermögen und das Organ, womit jeder begreift, wie wenn ein Auge nicht anders als mit dem gesamten Leibe zugleich sich aus dem Finstern ans Helle wenden könnte, so auch dieses nur mit der gesamten Seele zugleich von dem Werdenden abgeführt werden muß, bis es das Anschauen des Seienden und des glänzendsten unter dem Seienden aushalten lernt. Dieses aber, sagten wir, sei das Gute; nicht wahr? – ja. – Hiervon nun eben, sprach ich, mag sie wohl die Kunst sein, die Kunst der Umlenkung, auf welche Weise wohl am leichtesten und wirksamsten dieses Vermögen kann umgewendet werden, nicht die Kunst, ihm das Sehen erst einzubilden, sondern als ob es dies schon habe und nur nicht recht gestellt sei und nicht sehe, wohin es solle, ihm dieses zu erleichtern. – Das leuchtet ein, sagte er. – Die andern Tugenden der Seele nun, wie man sie zu nennen pflegt, mögen wohl sehr nahe liegen denen des Leibes; denn als in Wahrheit früher nicht vorhanden scheinen sie erst hernach angebildet zu werden durch Gewöhnungen und Übung; die des Erkennens aber mag wohl vielmehr einem Göttlicheren angehören, wie es scheint, welches seine Kraft wohl niemals verliert, aber durch Umlenkung nützlich und heilbringend oder auch unnütz und verderblich wird. Oder hast du noch nicht auf die geachtet, die man böse, aber klug nennt, wie scharf ihr Seelchen sieht und wie genau es dasjenige erkennt, worauf es sich richtet, daß es also kein schlechtes Gesicht hat, aber dem Bösen dienen muß und daher, je schärfer es sieht, um desto mehr Böses tut. – Allerdings, sagte er. – Ebendieses indes an einer solchen Natur, wenn sie von Kindheit an gehörig beschnitten und das dem Werden und der Zeitlichkeit Verwandte ihr ausgeschnitten worden wäre, was sich wie Bleikugeln an die Gaumenlust und andere Lüste und Weichlichkeiten anhängt und das Gesicht der Seele nach unten wendet, würde dann, hiervon befreit, sich zu dem Wahren hinwenden und dann bei denselben Menschen auch dieses auf das schärfste sehen, eben wie das, dem es jetzt zugewendet ist. – Natürlich, sagte er. –
Und wie, sprach ich, ist nicht auch dies natürlich und nach dem bisher Gesagten notwendig, daß weder die Ungebildeten und der Wahrheit Unkundigen dem Staat gehörig vorstehen werden noch auch die, welche man sich immerwährend mit den Wissenschaften beschäftigen läßt? Die einen, weil sie nicht einen Zweck im Leben haben, auf welchen zielend sie alles täten, was sie tun für sich und öffentlich, die andern, weil sie gutwillig gar nicht Geschäfte werden betreiben wollen, in der Meinung, daß sie auf die Insel der Seligen noch lebend versetzt worden sind. – Richtig, sagte er. – Uns also, als den Gründern der Stadt, sprach ich, liegt ob, die trefflichsten Naturen unter unsern Bewohnern zu nötigen, daß sie zu jener Kenntnis zu gelangen suchen, welche wir im vorigen als die größte aufstellten, nämlich das Gute zu sehen und die Reise aufwärts dahin anzutreten; aber wenn sie dort oben zur Genüge geschaut haben, darf man ihnen nicht erlauben, was ihnen jetzt erlaubt wird. – Welches meinst du? – Dort zu bleiben, sprach ich, und nicht wieder zurückkehren zu wollen zu jenen Gefangenen, noch Anteil zu nehmen an ihren Mühseligkeiten und Ehrenbezeugungen, mögen diese nun geringfügig sein oder bedeutend. – Also, sagte er, wollen wir ihnen Unrecht zufügen und schuld daran sein, daß sie schlechter leben, obwohl sie es besser könnten? –
Die vollkommen ausgebildeten Philosophen müssen gegen ihre Neigung zum Regieren genötigt werden
Du hast wieder vergessen, Freund, sprach ich, daß das Gesetz sich nicht dieses angelegen sein läßt, daß ein Geschlecht im Staat sich ausgezeichnet wohl befinde, sondern daß es im ganzen Staate Wohlsein muß hervorzubringen suchen, indem es die Bürger ineinanderfügt und sie teils überredet, teils nötigt, einander mitzuteilen von dem Nutzen, den jeder dem allgemeinen Wesen leisten kann, und indem es Männer dieser Art dem Staate selbst zuzieht, nicht um sie hernach gehen zu lassen, wohin jeder will, sondern um sich selbst ihrer für den Verein des Staates zu bedienen. – Richtig, sagte er; das hatte ich freilich vergessen. – Betrachte nun, o Glaukon, fuhr ich fort, daß wir den bei uns sich bildenden Philosophen auch kein Unrecht tun werden, sondern ganz Gerechtes gegen sie aussprechen, wenn wir ihnen zumuten, für die andern Sorge zu tragen und sie in Obhut zu halten. Wir werden ihnen nämlich sagen, daß, die in andern Staaten Philosophen werden, natürlicherweise an den Arbeiten in denselben keinen Teil nehmen; denn sie bilden sich zu solchen aus freien Stücken wider Willen der jedesmaligen Verfassung, und das sei ganz billig, daß, was von selbst gewachsen ist, da es niemandem für seine Kost verpflichtet ist, auch nicht Lust hat, jemandem Kostgeld zu bezahlen. Euch aber haben wir zu eurem und des übrigen Staates Besten wie in den Bienenstöcken die Weisel und Könige erzogen und besser und vollständiger als die übrigen ausgebildet, so daß ihr tüchtiger seid, an beidem teilzunehmen. Ihr müßt also nun wieder herabsteigen, jeder in seiner Ordnung, zu der Wohnung der übrigen und euch mit ihnen gewöhnen, das Dunkle zu schauen. Denn gewöhnt ihr euch hinein: so werdet ihr tausendmal besser als die dortigen sehen und jedes Schattenbild erkennen, was es ist und wovon, weil ihr das Schöne, Gute und Gerechte selbst in der Wahrheit gesehen habt. Und so wird uns und euch der Staat wachend verwaltet werden und nicht träumend, wie jetzt die meisten von solchen verwaltet werden, welche Schattengefechte miteinander treiben und sich entzweien um die Obergewalt, als ob sie ein gar großes Gut wäre. Das Wahre daran ist aber dieses: der Staat, in welchem die zur Regierung Berufenen am wenigsten Lust haben zu regieren, wird notwendig am besten und ruhigsten verwaltet werden, der aber entgegengesetzte Regenten bekommen hat, auch entgegengesetzt. – Ganz gewiß, sagte er. – Meinst du nun, daß unsere Zöglinge uns ungehorsam sein werden, wenn sie dies hören, und sich nicht jeder an seinem Teil im Staate werden mitplagen wollen, die übrige Zeit aber miteinander im Reinen wohnen? – Unmöglich! antwortete er; denn nur Gerechtes fordern wir ja von Gerechten.
Auf alle Weise jedoch werden sie nur recht wie zu etwas Notwendigem jeder zu seiner Amtsführung gehen, ganz das Gegenteil von denen, die jetzt in den Staaten regieren. – Denn so verhält es sich, Freund, sprach ich. Wenn du denen, welche regieren sollen, eine Lebensweise ausfindest, welche besser ist als das Regieren, dann kannst du es dahin bringen, daß der Staat wohl verwaltet werde; denn in einem solchen allein werden die wahrhaft Reichen regieren, die es nicht an Golde sind, sondern woran der Glückselige reich sein soll, an tüchtigem und vernunftmäßigem Leben. Wenn aber Hungerleider und Arme an eigenem Gut an die öffentlichen Angelegenheiten gehen, in der Meinung, von dort her Gutes an sich reißen zu müssen: so geht es nicht. Denn wird die Verwaltung etwas, worum man sich reißt und schlägt: so muß ein solcher einheimischer und innerer Krieg die Kriegführenden selbst und den übrigen Staat verderben. – Vollkommen richtig, sagte er. – Kennst du nun, sprach ich, eine andere Lebensweise, welche aus der bürgerlichen Gewalt wenig macht, als die der echten Philosophie? – Keine beim Zeus, sprach er. – Nun aber sollen ja nicht Liebhaber des Regierens dazu gelangen, weil sie sonst als Mitbewerber darum streiten werden. – Freilich. – Welche anderen also willst du nötigen, mit der Fürsorge für den Staat sich zu befassen, als welche sowohl dessen am kundigsten sind, wodurch ein Staat gut verwaltet wird, als auch welche zugleich andere Belohnungen kennen und eine andere Lebensweise als die staatsmännische? – Keine anderen, sagte er. –
Suchen einer Kenntnis, die die Seele vom Werdenden zum Seienden führt
Willst du also, daß wir nun schon dieses überlegen, auf welche Weise wir zu solchen gelangen und wie man sie ans Licht heraufbringt nach Art einiger, von denen erzählt wird, sie seien aus der Unterwelt zu den Göttern hinaufgestiegen? – Wie sollte ich nicht wollen! sagte er. – Das ist nun freilich, scheint es, nicht wie sich eine Scherbe umwendet, sondern es ist eine Umlenkung der Seele, welche aus einem gleichsam nächtlichen Tage zu dem wahren Tage des Seienden jene Auffahrt antritt, welche wir eben die wahre Philosophie nennen wollen. – Allerdings. – Also müssen wir sehen, welche unter allen Kenntnissen eine solche Kraft habe? – Wie sollten wir nicht! – Welche Wissenschaft also, o Glaukon, könnte wohl ein solcher Zug sein für die Seele von dem Werdenden zu dem Seienden? Dieses aber fällt mir eben noch ein, indem ich rede: sagten wir nicht, unsere Herrscher müßten notwendig in ihrer Jugend wackere Kriegskämpfer sein? – Das sagten wir. – Also muß ja wohl die Wissenschaft, die wir suchen, auch dieses noch dazu haben außer jenem. – Was denn? – Kriegerischen Männern nicht unbrauchbar zu sein. – Das muß sie, wenn es angeht. – In der Gymnastik und Musik aber sind sie uns ja zuvor schon unterwiesen worden. – So war es, sagte er. – Und die Gymnastik hat es doch ganz mit einem Werdenden und Vergänglichen zu tun, denn sie führt Aufsicht über Wachstum und Verfall des Leibes. – Offenbar, – Diese also wäre nicht die gesuchte Wissenschaft. – Freilich nicht. – Aber etwa die Musik, wie wir sie früher beschrieben haben? – Aber die war ja, sagte er, ein Gegenstück zur Gymnastik, wenn du dich erinnerst. Sie erzog durch Gewöhnungen unsere Wächter, mittels des Wohlklanges eine gewisse Wohlgestimmtheit, nicht Wissenschaft, ihnen einflößend, und mittels des Zeitmaßes die Wohlgemessenheit, woneben sie in Reden noch anderes diesem Ähnliches hatte, mochten es nun die fabelhafteren sein oder die der Wahrheit verwandteren; eine Wissenschaft aber, die zu demjenigen gut ist, was du jetzt suchst, war wohl gar nicht in ihr. – Auf das genaueste, sprach ich, bringst du es mir in Erinnerung. Denn dergleichen hatte sie in der Tat nicht. Aber, bester Glaukon, wo wäre nun eine solche? Die Künste dünkten uns doch ingesamt unedel zu sein? – Freilich. Und was also für eine andere Kenntnis bleibt uns noch übrig, wenn Musik, Gymnastik und Gewerbskünste ausgeschlossen sind? –
Wohl, sagte ich, wenn wir außer diesen nichts mehr finden können: so laß uns etwas von dem nehmen, was sich auf sie alle bezieht. – Was doch? – Wie jenes Gemeinsame, dessen alle Künste und Verständnisse und Wissenschaften noch dazu bedürfen, was auch jeder mit zuerst lernen muß. – Was denn? sagte er. – Jenes Schlichte, sprach ich, die eins und zwei und drei zu verstehen; ich nenne es aber, um es kurz zusammenzufassen, Zahl und Rechnung. Oder ist es damit nicht so, daß jegliche Kunst und Wissenschaft daran teilnehmen muß? – Gar sehr, sagte er. – Nicht auch, sprach ich, die Kriegskunst? – Diese nun ganz notwendig, sagte er. – Wenigstens, sagte ich, den Agamemnon stellt doch in den Tragödien Palamedes immer als einen ganz lächerlichen Feldherrn dar. Oder besinnst du dich nicht, daß er sagt, nachdem er die Zahl ausgemittelt, habe er die Ordnungen dem Heer eingerichtet vor Ilion und die Schiffe und alles andere gezählt, als ob sie vorher ungezählt gewesen wären und Agamemnon, wie es scheint, nicht einmal gewußt habe, wieviel Füße er hatten, wenn er ja nicht zählen konnte. Und was für ein Feldherr muß er also wohl gewesen sein? – Ein gar abgeschmackter, sagte er, wenn das wahr ist. –
Geeignetheit bestimmter Wahrnehmungen zur Vernunftaufregung
Wollen wir also nicht festsetzen, daß für einen Kriegsmann Zählen und Rechnenkönnen eine notwendige Kenntnis sei? – Diese wohl vorzüglich, sagte er, wenn er nur etwas von den Aufstellungen verstehen, ja wenn er nur ein Mensch sein soll. – Denkst du nun, sprach ich, über diese Kenntnis eben das was ich? – Was denn? – Sie mag wohl zu dem auf die Vernunfteinsicht Führenden, was wir suchen, ihrer Natur nach gehören, niemand aber sich ihrer recht als eines auf alle Weise zum Sein Hinziehenden bedienen. – Wie, sagte er, meinst du das? – Ich will versuchen, sprach ich, deutlich zu machen, wie es mir vorkommt. Wie ich aber bei mir selbst unterscheide, was ein Leitmittel zu dem ist, wovon wir reden, und was nicht, das betrachte zuerst mit mir und stimme dann bei oder stimme ab, damit wir auch dieses deutlicher sehen, ob es so ist, wie mir ahnt. – Zeige es nur, sagte er. –
Ich zeige dir also, sprach ich, wenn du es siehst, in den Wahrnehmungen einiges, was gar nicht die Vernunft zur Betrachtung auffordert, als werde es schon hinreichend durch die Wahrnehmung bestimmt, anderes hingegen, was auf alle Weise jene herbeiruft zur Betrachtung, als ob dabei die Wahrnehmung nichts Gesundes ausrichte. – Offenbar, sagte er, meinst du, was sich nur von ferne zeigt und was nach Licht und Schatten gezeichnet ist. – Diesmal, sprach ich, hast du nicht so recht getroffen, was ich meine. – Was also, sagte er, meinst du denn? – Nicht auffordernd, sprach ich, ist das, was nicht in eine entgegengesetzte Wahrnehmung zugleich ausschlägt; was aber dazu ausschlägt, setze ich als auffordernd, weil die Wahrnehmung nun dieses um nichts mehr als sein Gegenteil kundgibt, sie mag nun von nahem darauf zukommen oder von weitem. So wirst du aber wohl deutlicher sehen, was ich meine. Dies, sagen wir also, wären drei Finger, der kleinste und hier der andere und der mittlere. – ja, sagte er. – Und denke, daß ich von ihnen als in der Nähe Gesehenen rede. Betrachte mir aber nun dieses an ihnen. – Was doch? – Ein Finger ist offenbar jeder von ihnen auf gleiche Weise, und insofern ist es ganz einerlei, ob man ihn in der Mitte sieht oder am Ende und ob er weiß ist oder schwarz, stark oder dünn, und was noch mehr dergleichen, denn durch alles dieses wird die Seele der meisten nicht aufgefordert, die Vernunft weiter zu fragen, was wohl ein Finger ist; denn nirgends hat ihnen derselbe Anblick gezeigt, daß ein Finger auch das Gegenteil von einem Finger ist. – Freilich nicht, sagte er. – Dies wäre also offenbar nicht die Vernunft auffordernd oder aufregend. – Offenbar nicht. –
Wie aber ihre Größe und Kleinheit? Sieht auch die das Gesicht hinreichend und so, daß es ihm keinen Unterschied macht, ob einer in der Mitte liegt oder am Ende? Und erkennt ebenso Dicke und Dünnheit, Weichheit und Härte das Gefühl? Und zeigen nicht ebenfalls die andern Sinne dergleichen alles nur mangelhaft an?
Oder geht es nicht jedem Sinne so, daß zuerst der über das Harte gesetzte Sinn auch über das Weiche muß gesetzt sein und der Seele wahrnehmend Hartes und Weiches als dasselbe meldet? – So ist es, sagte er. – Muß nun nicht hierbei die Seele zweifelhaft werden, als was ihr diese Wahrnehmung das Harte andeutet, wenn sie doch dasselbe weich nennt, und so auch die des Leichten und Schweren, als was doch leicht und schwer, wenn sie doch das Schwere als leicht und das Leichte als schwer kundgibt. – Freilich, sagte er, müssen diese Aussagen der Seele gar wunderlich erscheinen und näherer Betrachtung bedürftig. – Natürlich also versucht die Seele bei dergleichen zuerst, Überlegung und Vernunft herbeirufend, zu erwägen, ob jedes solche Angemeldete eins ist oder zwei. – Natürlich. – Und erscheint es als zwei, so ist doch jedes von beiden ein anderes und eines. – Ja. – Und wenn jedes von beiden eins ist und beide zwei, so erkennt sie doch zwei gesonderte, denn ungesondert würde sie nicht zwei erkennen, sondern eins. – Richtig. – Großes freilich und Kleines, sagten wir, sah auch das Gesicht, aber nicht gesondert, sondern als ein Vermischtes. Nicht wahr? – Ja. – Um aber dieses deutlich zu machen, ward die Vernunft genötigt, ebenfalls Großes und Kleines zu sehen, nicht vermischt, sondern getrennt, also auf entgegengesetzte Weise wie jenes. – Richtig. – Und nicht wahr, von daher fiel es uns zuerst ein, danach zu fragen, was wohl recht das Große und Kleine ist? – Allerdings. – Und so nannten wir dann das eine das Erkennbare, das andere das Sichtbare. – Ganz richtig, sagte er. –