Die Geschichte "Die unheimliche Fähigkeit der Katze" wurde in einem traditionellen Buch der Geheimnisse der Schwertkunst namens "Inaka Soshi" 田舎荘子 gefunden. Geschrieben von Issai Chozan im 5. Jahrhundert. Chozan war ein Samurai des Sekiyado-Lehens und war gut vertraut mit Shintoismus, Konfuzianismus und Buddhismus, mit besonderer Kenntnis des Taoismus und Zenbuddhismus. Diese Geschichte wurde von Yamaoka Tesshū山岡鉄舟 geschätzt und kaum mit jemandem geteilt, auch nicht innerhalb derselben Schule.
Diese Übersetzung basiert auf einer englischen Version von Karlfried Graf Dürckheims bahnbrechender deutscher Übersetzung "Die wunderbare Kunst einer Katze". Dürckheim erhielt den Text von seinem Zen-Meister 晴本丈晴 . Teramoto-sensei gehörte zu einer Schwertschule, in der diese Geschichte seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts als geheime Lehre vom Meister an den Meister weitergegeben wurde.
Es war einmal ein Fechtmeister namens Shoken. In seinem Hause trieb eine große Ratte ihr Unwesen. Selbst am hellen Tage lief sie herum.
Da machte der Hausherr einmal das Zimmer zu und gab seiner Hauskatze Gelegenheit, die Ratte zu fangen. Die aber sprang der Katze ins Gesicht und biß sie so, daß sie laut schreiend davonlief. So also ging es nicht. Und so brachte der Hausherr einige Katzen herbei, die in der Nachbarschaft einen tüchtigen Ruf genossen, und ließ sie in das Zimmer hinein.
Die Ratte kauerte in einer Ecke und sowie eine Katze ihr nahte, sprang sie sie an, biß sie und schlug sie in die Flucht. So ungestüm sah die Ratte aus, daß die Katzen alle zögerten, sich noch einmal an sie heranzuwagen.
Da wurde der Hausherr zornig und lief selber der Ratte nach, um sie zu töten. Sie aber entschlüpfte jedem Hieb des erfahrenen Fechtmeisters, und er konnte sie nicht erwischen. Er schlug dabei Türen, Shojis, Karakamis u. a. entzwei. Aber die Ratte huschte durch die Luft - schnell wie ein fahrender Blitz, entging jeder seiner Bewegungen und sprang ihm ins Gesicht und biß ihn.
In Schweiß gebadet rief er schließlich seinem Diener zu: “Man sagt, sechs bis sieben Cho von hier sei eine Katze, die die tüchtigste in der Welt sei. Geh und hole sie her!”
Der Diener brachte die Katze. Sie schien sich nicht von den anderen Katzen zu unterscheiden, sah besonders klug noch besonders scharf aus. So traute der Fechtmeister ihr auch nichts Besonderes zu, aber er machte die Tür etwas auf und ließ sie herein.
Ganz ruhig und langsam ging die Katze hinein, so als erwarte sie gar nichts Besonderes. Aber die Ratte fuhr zusammen und rührte sich nicht. Und die Katze ging ganz einfach und langsam heran und brachte sie im Maul heraus.
Am Abend versammelten sich in Shokens Haus die geschlagenen Katzen, baten respektvoll die alte Katze auf den Ehrensitz, knieten vor ihr nieder und sagten bescheiden: “Wir alle gelten als tüchtig. Wir alle haben uns in diesem Wege geübt und uns die Klauen geschärft, um damit jede Art von Ratten, ja sogar Wiesel und Ottern besiegen zu können. Wir hätten niemals gedacht, daß es eine so starke Ratte geben könnte. Aber mit was für einer Kunst habt Ihr sie so leicht besiegt? Macht doch kein Geheimnis aus Eurer Kunst und erzählt uns Euer Geheimnis!”
Da lachte die Alte und sprach: “Ihr jungen Katzen, ihr seid zwar ganz tüchtig. Aber ihr wißt im rechten Weg nicht Bescheid. So verfehlt ihr, wenn etwas Unerahntes euch begegnet, den Erfolg. Doch erzählt erst ihr mir, wie ihr euch geübt habt.”
Da rückte eine schwarze Katze heran und sagte: “Ich stamme aus einem Haus, das für den Rattenfang berühmt ist. So entschloß auch ich mich zu diesem Weg. Ich kann Wandschirme von 2 m Höhe überspringen. Ich kann mich durch ein winziges Loch zwängen, durch das sonst nur eine Ratte durchkommt.
Von Kind auf habe ich alle akrobatischen Künste geübt. Auch wenn ich beim Aufwachen aus dem Schlaf noch nicht ganz da bin, eben dabei, mich wiederzufinden, und sehe da eine Ratte über den Balken laufen - schon habe ich sie. Die Ratte von heute aber war stärker, und ich habe die furchtbarste Niederlage erfahren, die ich in meinem Leben jemals zu erleiden gehabt. Ich bin beschämt.”
Da sagte die Alte: “Worin du dich da geübt hast, ist eben nichts als nur Technik! Dein Geist ist aber besetzt mit der Frage: Wie gewinnen? So haftest du ja noch am Zielen! Wenn die Alten “Technik” lehrten, so taten sie es, um damit eine Weise des Weges zu zeigen. Ihre Technik war einfach, beschloß jedoch die höchste Wahrheit in sich.
Die Nachwelt aber beschäftigt sich nur noch mit Technik. Dabei erfand man zwar vieles, so nach dem Rezept: ‘Wenn man dies und das macht, da kommt dies und jenes dabei heraus.’ Was aber kommt dabei heraus? Nichts als eine Geschicklichkeit. Und unter Preisgabe des überlieferten Weges entstand unter Aufbietung von viel Klugheit der Wettbewerb in Technik bis zur Erschöpfung, und nun kommt man nicht weiter.
Das ist immer so, wenn man nichts als die Technik im Sinn hat und ausschließlich die Klugheit betätigt. Zwar ist die Klugheit eine Funktion des Geistes, wenn sie aber nicht auf dem Weg fußt und allein auf Geschicklichkeit abzielt, dann wird sie zum Ansatz von Falschem und das Errungene zum Übel. Also geh in dich und übe von nun an im rechten Sinn weiter.”
Darauf rückte eine große Katze mit einem Tigerfell heran und sprach: “In der Ritterkunst kommt es, so meine ich, nur auf den Geist an. So habe ich mich daher seit jeher in dieser Kraft geübt. Mir ist dann, als sei mein Geist ’stahlhart’ und frei und geladen von dem ‘Geist k-i’, der Himmel und Erde erfüllt.
Sehe ich den Feind, schon schlägt dieser allgewaltige Geist ihn in Bann, und ich gewinne den Sieg schon im voraus. Erst dann gehe ich vor! Ganz einfach, so wie es die Lage erfordert. Ich richte mich nach dem ‘Klang’ meines Gegners, banne die Ratte, wie es mir beliebt, nach links oder nach rechts und komme jeder Wendung entgegen. Um die Technik als solche kümmere ich mich überhaupt nicht. Die kommt von selber. Eine Ratte, die über den Balken läuft, starre ich nur an, und schon fällt sie herunter und ist mein. Aber diese geheimnisvolle Ratte da kommt ohne Gestalt und geht ohne Spur. Was ist das? Ich weiß es nicht.”
Da sagte die Alte: “Worum du dich da bemüht hast, ist wohl das Wirken, das aus der großen Kraft kommt, die Himmel und Erde erfüllt. Aber was du gewonnen hast, ist doch nur eine psychische Kraft und ist nicht von dem Guten, das den Namen des Guten verdient. Allein schon die Tatsache, daß du dir der Kraft, mit der du siegen willst, bewußt bist, wirkt dem Siege entgegen. Dein Ich ist im Spiel. Wenn das des anderen aber stärker ist als das deine, was dann? Wenn du den Feind mit dem Übergewicht deiner Kraft besiegen willst, stellt er dir die seine entgegen. Bildest du dir denn ein, allein stark zu sein und alle anderen schwach? Wie aber soll man sich verhalten, wenn es etwas gibt, das man mit bestem Willen nicht mit dem Übergewicht der eigenen Kraft besiegen kann? - Das ist die Frage!
Was du da als ‘frei’ und ‘gestählt’ und als ‘Himmel und Erde erfüllend’ in dir fühlst als geistige Kraft, das ist nicht die große Kraft selbst, sondern nur ihr Abglanz in dir. Es ist dein eigener Geist, also nur der Schatten des großen Geistes.”
Nun rückte eine ältere graue Katze langsam heran und sagte: “Ja, wirklich, es ist wie Ihr sagt. Die psychische Kraft hat, so stark sie auch sein mag, in sich selbst eine Form. Was aber Form hat, so klein es auch sei, es ist faßbar. Daher habe ich seit langem meine Seele geübt. Ich übe nicht die Kraft aus, die den anderen geistig überwältigt. Ich schlage mich auch nicht herum (wie die erste Katze). Ich versöhne mich mit meinem Gegenüber, lasse mich mit ihm eins werden und widersetze mich ihm überhaupt nicht.
Ist der andere stärker als ich, so gebe ich einfach nach und bin ihm gleichsam zu Willen. Meine Kunst besteht gewissermaßen darin, die fliegendem Kieselsteine in einem losen Vorhang aufzufangen. Eine Ratte, die mich angreifen will, mag noch so stark sein, sie findet nichts vor, worauf sie sich stürzen, nichts, woran sie ansetzen könnte. Aber die Ratte von heute ging einfach nicht auf mein Spiel ein. Sie kam und ging unfaßbar wie Gott. Dergleichen habe ich noch nie gesehen.”
Da sagte die Alte: “Was du Versöhnlichkeit nennst, kommt nicht aus dem Wesen, nicht aus der großen Natur. Es ist eine gemachte, künstliche Versöhnung, ein Kniff. Bewußt willst du damit dem Angriffsgeist des Feindes entgehen.
Weil du aber, und sei es auch noch so flüchtig, daran denkst, so merkt er ja deine Absicht. Gibst du dich aber in solcher Geistesverfassung ‘versöhnlich’, so kommt damit dein dem Angriff zugewandter Geist nur durcheinander, wird getrübt, und die Präzision deiner Wahrnehmung und deines Handelns ist gestört.
Was immer du mit bewußter Absicht tust, schränkt die ursprüngliche und aus dem Verborgenen wirkende Schwingung der großen Natur ein, stört den Fluß ihrer spontanen Bewegung. Wo sollte da eine wunderbare Wirkkraft herkommen? Nur wenn man an nichts denkt, wenn du nichts willst und nichts machst, sondern dich mit deiner Bewegung der Schwingung des Wesens überläßt, gibt es auch keinen Feind mehr, der widerstehen kann.
Ich bin nun durchaus nicht der Meinung, daß alles, worin ihr euch geübt habt, zwecklos sei. Nur auf eines kommt es an: daß kein Hauch von Ich-Bewußtsein im Spiel sei, sonst ist alles verdorben. Wenn man auch noch so flüchtig an all das denkt, so ist es nur etwas Erkünsteltes. Es kommt nicht aus dem Wesen. Dann aber wird auch der Gegner einem nicht zu Willen sein, sondern seinerseits widerstehen.
Was für eine Weise oder Kunst also soll man gebrauchen? Nur wenn du in jener Verfassung bist, die frei ist von jeglichem Bewußtsein, wenn du handelst, ohne zu handeln, ohne Absicht und Tricks, im Einklang mit der großen Natur, bist du auf dem rechten Wege. So lasse man jegliche Absicht, übe sich in der Absichtslosigkeit und lasse es einfach aus dem Wesen geschehen. Dieser Weg ist ohne Ende, unerschöpflich.”
Und dann fügte die alte Katze noch etwas Erstaunliches hinzu: “Ihr müsst nicht glauben, dass das, was ich euch hier sagte, das Höchste sei.
Es ist nicht lange her, da lebte in meinem Nachbardorf ein Kater. Der schlief den ganzen Tag. Irgend etwas, das nach geistiger Kraft aussah, war nicht an ihm zu bemerken. Er lag wie ein Stück Holz. Niemand hatte ihn je eine Ratte fangen sehen. Aber wo er war, gab es ringsherum keine Ratten! Und wo auch immer er auftauchte oder sich niederließ, ließ keine Ratte sich sehen.
Ich suchte ihn einmal auf und fragte ihn, wie das zu verstehen sei. Er gab keine Antwort. Ich fragte ihn noch dreimal. Er schwieg. Aber eigentlich war es nicht so, daß er nicht antworten wollte, sondern er wußte offenbar nicht, was er antworten sollte. Also wußte ich: “Wer etwas weiß, der sagt es nicht, und wer etwas sagt, der weiß es nicht.”
Dieser Kater hatte sich selbst vergessen und so auch alle Dinge im Kreis. Er war “nichts” geworden, hatte den höchsten Stand der Absichtslosigkeit erreicht. Und hier kann man sagen, er hatte den göttlichen Ritterweg gefunden: zu siegen ohne zu töten. Dem stehe ich noch weit nach.”
Shoken hörte dies wie im Traum, kam herbei, grüßte die alte Katze und sagte: “Nun übe ich mich seit langem schon in der Fechtkunst, aber das Ende habe ich noch nicht erreicht. Ich habe Eure Einsichten vernommen und glaube, den wahren Sinn meines Weges verstanden zu haben; aber inständig bitte ich Euch, sagt mir doch noch etwas mehr über Euer Geheimnis!”
Da sprach die Alte: “Wie kann das zugehen? Ich bin nur ein Tier, und die Ratte ist meine Nahrung. Wie könnte ich über menschliche Dinge Bescheid wissen! Ich weiß nur soviel: Der Sinn der Fechtkunst liegt nicht bloß darin, über einen Gegner zu siegen. Sie ist vielmehr eine Kunst, mit der man zu gegebener Stunde in die große Klarheit des Lichtgrundes von Tod und Leben gelangt. Ein wahrer Ritter sollte mitten in aller technischen Übung immerzu die geistliche Übung dieses Klarsinnes pflegen. Hierzu aber muß er vor allem die Lehre vom Seinsgrund von Leben und Tod, von der Todesordnung, ergründen. Den großen Klarsinn gewinnt nur, wer frei ist von allem, was ihn von diesem Weg abbringt ...
Dies ist alles, was ich Euch sagen kann. Gehet nun in Euch und forscht selbst in Euch nach. Ein Meister kann dem Schüler immer nur die Sache mitteilen und sie zu begründen versuchen. Die Wahrheit zu erkennen und sie sich anzueignen, das vermag immer nur ‘Ich-Selbst’. Das nennt man Selbstaneignung. Das Übermitteln erfolgt von Herz zu Herz. Es ist eine Weitergabe auf außerordentlichem Wege, von Herz zu Herz Lehre und Gelehrsamkeit.
Dies bedeutet nicht, der Lehre der Meister zu widersprechen. Es bedeutet nur, daß auch ein Meister die Wahrheit selbst nicht weiterzugeben vermag. Dies gilt nicht nur für Zen. Angefangen von den geistlichen Übungen der Alten über die Kunst der Bildung der Seele bis hin zu den schönen Künsten - immer ist die Selbstaneignung das Kernstück, und dieses wird nur weitergegeben von Herz zu Herz, jenseits von aller überlieferten Lehre.
Der Sinn jeder ‘Lehre’ ist nur: auf das, was jeder in sich selbst hat, ohne es selbst schon zu wissen, hinzudeuten und zu verweisen. Es gibt also kein Geheimnis, das der Meister dem Schüler ‘übergeben’ könnte. Zu lehren ist leicht. Zu hören ist leicht. Schwer ist es aber, dessen bewußt zu werden, was man in sich selbst hat, es zu finden und wirklich in Besitz zu nehmen. Dies nennt man: ins eigene Wesen blicken, Wesensschau. Widerfährt es uns, haben wir Satori. Es ist das Große Erwachen aus dem Traum der Irrungen. Erwachen, ins eigene Wesen blicken, Selbst-Wahr- Nehmung ist alles dasselbe.”